„Die Loverboy-Methode basiert auf seelischer Gewalt“ 

– Ein Interview mit Sandra Norak

Copyright Leif Piechowski

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Ein Loverboy beutete Sandra Norak  jahrelang in der Prostitution aus. Heute steht sie auf, tritt an die Öffentlichkeit und erhebt ihre Stimme gegen die Zustände in der Prostitution in Deutschland und gegen die Ausbeutung von Frauen.

Sechs Jahre lang war Sandra in der Prostitution tätig, sowohl im Escort als auch in verschiedenen Bordellen. Zu Hause hatte sie es nicht immer leicht. Schließlich lernte Sandra einen älteren Mann kennen, einen Zuhälter, für den sie anschaffen ging. Über ihre Erfahrungen berichtet Sandra in ihrem Blog „My Life in Prostitution“, aber auch in Print-Medien, im Radio und seit November 2017 auch im Fernsehen. Unter anderem in der ausführlichen Doku „Bordell Deutschland. Milliardengeschäft Prostitution“ von ZDFinfo kommt Sandra zu Wort, aber auch auf dem YouTube-Kanal „Die Frage”.

Wir freuen uns, dass wir im vergangenen Jahr gemeinsam mit Sandra junge Menschen für die Loverboy-Masche und die Situation in der Prostitution sensibilisieren durften und sie immer wieder bereit war, ihre Erfahrungen zu teilen. Das ist ihre Geschichte:

Sandra, wie bist du in die Prostitution gekommen?

Ich bin durch einen sogenannten „Loverboy“ in die Prostitution gekommen. „Loverboys“ sind Männer, die vor allem junge Frauen gezielt emotional abhängig machen mit dem Ziel, sie später in die Prostitution zu treiben und dort auszubeuten.

Wieso hast du für deinen „Loverboy“ angeschafft und bist nicht einfach gegangen? Was hat dich bei ihm gehalten?

Hinter dieser „Loverboy-Methode“ steckt eine psychologische Taktik. Im ersten Stadium wird Vertrauen aufgebaut. Hier gibt es die Prostitution meist nicht einmal als Gesprächsthema, sie ist schlicht nicht vorhanden. Erst im zweiten Stadium, wenn das Vertrauen geschaffen wurde, kommt sie ins Spiel, wo dann auch der Druck ausgeübt wird, dass man sich prostituieren soll. Die „Loverboy-Methode“ basiert auf seelischer Gewalt. Viele „Loverboys“ suggerieren den Opfern im zweiten Stadium, dass sie ohne deren finanzielle Unterstützung in Form der Prostitution, Gefahr laufen umgebracht zu werden, wenn sie ihre Schulden bei bestimmten Leuten nicht abbezahlen. Ist man einmal im „System Prostitution“ drin, kommt man nur schwer wieder raus. Das Gefühl von Liebe wandelt sich auch in Angst. Es kommt die Gewalt in der Prostitution hinzu, Unsicherheiten, Hoffnungslosigkeit – es entsteht eine große Leere und Einsamkeit. Man wird zu einer Marionette des Systems.

 

Wie hast du es dann schließlich geschafft auszusteigen? Wie kam es dazu?

Es gab ein Schlüsselereignis, an das ich mich noch sehr gut erinnern kann. Ich war als Prostituierte in einem Bordell mit Nachtbetrieb tätig. Ich hatte dort eine nette „Kollegin“, wir verbrachten viel Zeit miteinander und sie half mir dabei, mich von meinem Zuhälter immer weiter zu lösen. Eines Abends saßen wir zu zweit an der Bar mit einem Freier. Er war sehr betrunken. Ich saß auf einem Barhocker, sie stand mir mit ihm gegenüber. Er fasste sie an, bedrängte sie und ich sah ihr Gesicht dabei, ihre leeren Augen. Ich sah, wie sie ihn abwehrte und dabei trotzdem freundlich bleiben musste, obwohl sie innerlich zerbrochen ist. Sie sind aufs Zimmer gegangen, danach war sie kaum mehr ansprechbar. Ich habe nicht nur meinen Abgrund gesehen, sondern zugleich ihren und den der ganzen Anderen. Es gab unzählige schlimme Momente, aber dieser blieb mir besonders in Erinnerung, weil ich bis heute ihren leblosen Blick vor Augen habe. Letztlich begann ich aufgrund von unheimlicher Wut über das, was ich in der Prostitution sah und erlebte, und getragen von der Hoffnung, irgendwann ein Leben zu haben, mein Abitur nachzuholen, machte unbezahlte Praktika und bekam dann nach sehr vielen Absagen endlich einen Vollzeitjob.

 

Was bedeutet für dich Freiheit und Freiwilligkeit im Zusammenhang mit der Thematik?

Die amerikanische Psychologin Melissa Farley lässt in einer Schrift zu Sexkäufern einen Mann zu Wort kommen, der das Ganze recht gut beschreibt. Er sagte, er glaube nicht, dass Prostitution das gleiche wie eine Vergewaltigung sei. Vergewaltigungen seien schlimmer, weil es bei ihnen überhaupt keinen Konsens gebe. Am Ende sei die Prostitution der Vergewaltigung aber sehr nahe, denn wenn man tiefer blickt, sieht man, dass die Lebensumstände die Menschen in die Prostitution gezwungen haben. Es sei, wie wenn jemand von einem brennenden Gebäude springt – man kann natürlich sagen, derjenige hat freiwillig gewählt zu springen. Man kann aber auch sagen, diese Person hatte keine Wahl.

Ich möchte nicht leugnen, dass es Menschen gibt, die sich prostituieren und für die es okay sein mag, aber das ist nicht die große Masse, sondern nur ein kleiner Bruchteil. Für die große Masse bedeutet Prostitution gefangen zu sein. Gefangen in einem Leben voller Gewalt und voller Lügen. Prostitution bedeutet für diese Menschen ein enormes Ausmaß an unsagbarem, nie wieder gut zu machendem Leid. Meines Erachtens sollte niemand das Recht haben dürfen, sich einen Körper zur sexuellen Befriedigung kaufen zu können, denn ein Mensch wird, ob freiwillig oder nicht, damit immer zu einem Objekt degradiert.

 

Wieso findest du, dass es wichtig ist, dass sich Jugendliche und junge Menschen mit den Themen Menschenhandel und Prostitution auseinandersetzen?

Es ist wichtig, damit sie Bescheid wissen, was in unserer Gesellschaft passiert. Was Anderen passiert, aber auch, was ihnen selbst passieren kann. Es ist wichtig, dass sie sehen können, warnen können und gewarnt sind – und dass sie mithelfen können etwas zu verändern, wenn sie das möchten. Das Abrutschen in die Prostitution betrifft häufig junge Frauen, die ihre erste Liebe in einem Zuhälter finden, der sie dann in die Prostitution drängt. Es ist essentiell, dass junge Menschen verstehen lernen, wie weit sie für die Liebe gehen sollten und ab wann es wichtig ist „Nein“ zu sagen. Freier zu sein wird oftmals als „cool“ angesehen. In dem oben besagten Bordell mit Nachtbetrieb kamen viele junge Männer früh morgens nach der Disco zu uns. Für sie war es das Höchste in ihrem Rausch. Sie animierten sich gegenseitig und fanden es lustig im Bordell zu sein. Dass wir da drin jeden Tag leise immer weiter zugrunde gingen, konnten oder wollten sie nicht sehen. Es ist wichtig, dass sich junge Menschen mit den Themen Menschenhandel und Prostitution auseinandersetzen, damit es ihnen möglich ist zu sehen, was da draußen mitten unter uns stattfindet.

 

Wie kann deiner Meinung nach jede und jeder von uns im Alltag dazu beitragen, dass mehr Menschen über diese Missstände in Deutschland Bescheid wissen und sich etwas verändert?

Es fängt bei ganz kleinen, aber bedeutenden Dingen an. Macht jemand beispielsweise im Freundeskreis eine abfällige Bemerkung über das Thema, kann man versuchen aufzuklären. Man kann sich organisieren und einen Verein zur Aufklärung gründen. Man kann sich aber auch Vereinen anschließen und einfach mitmachen. Jeder kann in Bezug auf das Thema Menschenhandel und Prostitution etwas tun. Es erfordert aber vor allem Mut und Ausdauer, für diese Sachen einzustehen, weil es leider keine alltäglichen Themen sind, die viel diskutiert werden, was sich aber hoffentlich immer weiter ändern wird. Viele Menschen sind einfach verunsichert in Bezug auf diese Themen, weil es ihnen unangenehm ist, fremd ist, so weit entfernt scheint. Im Alltag kann man sie darauf aufmerksam machen, dass es näher liegt, als die meisten ahnen. Man sollte immer daran denken, dass man mit jedem Wort an Aufklärung über Prostitution und Menschenhandel beteiligt ist, etwas an dieser Situation ändern zu können. Das sollte eine Motivation sein, anzupacken und dran zu bleiben – für einen selbst und auch für andere.

Hier findest du zwei Videos von Sandra, in denen sie von ihrer Geschichte und den Erfahrungen, die sie in der Prostitution gemacht hat, berichtet: